Aktueller Lagebericht von der pädagogischen Nahkampf-Frontlinie, Stellung Mathematik-Süd:
Hier in Bayern laufen ja im Realschulbereich, so wie in anderen Bundesländern sicher auch, die sog. Jahrgangsstufentests in den Hauptfächern D, E, M ab.
Donnerstag letzte Woche waren die Sechstklässler (11/12 Jährige) in Mathe dran. Insgesamt umfasste der Test 16 Aufgaben zum Stoffgebiet der 5. Klasse.
Die Aufgabe 1 zum Warmlaufen lautete dabei so:
Aus einer Zeitungsmeldung:
Die Zahl der Besucher im Freizeitpark "Attraktion" weist im Monat April mit 128250 ein Plus von 950 im Vergleich zum Monat März auf. Die Besucherzahl an Freitagen stieg um 500 auf 23400, die Zahl der besucher an Samstagen um 650 auf 48800. Ein Minus wurde dagegen bei den Sonntagsbesuchern registriert, hier sank die Zahl um 2450 auf 41300. Laut Statistik kam rund die Hälfte der Besucher mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Gib an, wie viele Sonntagsbesucher es im Monat März waren.
Das ist so was wie die klassische Kapitänsaufgabe in modernem Gewand und immerhin wenigstens lösbar. Die Kinder, die erwartungsfreudig und kraftvoll eigentlich mit dem Rechnen beginnen wollen, werden erstmal mit unzähligen Zahlenangaben zugemüllt und dann folgt die eigentlich läppische Frage, deren richtige Beantwortung den meisten aber wegen der zur Rechnung nicht nötigen, überflüssigen und verwirrenden Angaben durch die Lappen geht. Immerhin kamen von meinen 23 Schülern noch 6 auf das richtige Ergebnis!
Das Ganze firmiert dann unter dem pädagogischen Leitmotiv "Kommunizieren" (so ausgewiesen im Lösungsmuster für die Lehrkraft), vulgo Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden, Textverständnis nachweisen, Lösung dem Nachbarn mitteilen, nö, sry, letzter Punkt muss wieder weg ... :smokin
Wer schon mal von der wissenschaftl. Umfrage gehört hat, was dem Durchschnittsbetrachter der ARD-Tagesschau von den brandwichtigen Meldungen so im Gedächtnis zurückbleibt nach den ca. 10 Minuten News-Berieselung, nämlich praktisch nichts, kann sich vorstellen, was das für 6-Klässler hier analog bedeutet, die eigentlich beim Test davon ausgehen, dass alles darin Stehende irgendwie sehr wichtig sein muss: im mildesten Fall gelinde Desorientierung ...
Aber OK, das muss das moderne, mediengestählte Kind eben abkönnen mittlerweile, auch dem Mathelehrer ist da nicht mehr ganz zu trauen, jedes Bröckchen muss erst mal durch den konditionierten präpubertären Checker-Filter geworfen werden ... stimmt das überhaupt, brauch ich das eigentlich, oder ist das Unsinn, der mich auf die falsche Fährte bringen soll, usw.
Damit Urvertrauen in eine konsistente Aufgabenstellung und den stringent vorangehenden Lehrer ebenso ade und grundsätzlicher frühkindlicher Skeptizismus angeraten, der allerdings niemals auf das ganze mathematische Prozedere ausgedehnt werden darf, geschweige denn auf die gesellschaftliche Realität, wie durch Presse und Funk dargestellt, schlechthin.
Klar gab es auch früher schon so sinnige Aufgaben im Mathebuch nach der Art wie: Ein 20-köpfiges Orchester spielt ein Musikstück in vier Minuten, wie lange braucht ein 15-Mann-Orchester dafür?
Das war aber fast immer etwas mit Schmunzel-Wink garniert, während jetzt den Schülern der Realitäts-, Plausibilitäts- und Verwertungs-Check schon im sehr frühen Stadium voll übertragen wird. Nun gut, einige Aufgaben sind immer noch vom klassischen Stil, Zahlen her, jetzt wird gerechnet, und das klappt auch meist noch gut, wenn auch im Bereich Rechengrundlagen (z.B. Punkt vor Strich-Regel, kleines/großes Einmaleins, Bruchumwandlungen, Prozentrechnen) sich die Ausfälle häufen.
Kurzum, die alte Grundschul-Paukermethode mit dem Fokus auf Drillen und Auswendiglernen ohne irgendwelche vorgeschalteten Sinn-, Textverständnis- und Plausibilitätsfragen hatte auch ihr Gutes, nämlich die Ausbildung und Formung des angeborenen Zahlensinnes, aber dafür haben wir halt inzwischen unter unseren Schülern jede Menge Riesen-Checker, die dann bei der Frage: 'Sagt man, 7 mal 8
sind 54 oder 7 mal 8
ist 54', grandios scheitern ...
Irgendwie erinnert mich das alles an die Kartoffel-Matheaufgabe im Wandel der Zeiten, die auch hier im SNF schon zu dessen Altsteinzeit gepostet worden ist:
https://www.supernature-forum.de/comedy-and-spiele/4647-mathematik-im-wandel-der-zeit.html
https://www.supernature-forum.de/boardsofa/5714-mathematik-unterricht.html
Irgendwann werden wir wohl wieder bei der dann re-reformierten Schule der 50er mit klassisch-schlankem Aufgabenprofil landen, aber gut, Prognosen sind nicht so meine Stärke, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen ... :smokin
gruß schrotti