Gedankengänge - zweigleisig, für und wider

gisqua

ist wieder öfter hier
Es war einmal - auch nein: ist ja noch - eine ältere Dame, so etwa in meinem Alter.
Ich kenne sie ziemlich gut und auch ihre Gedanken sind mir total vertraut. Darum kann ich diese kleine Geschichte auch relativ genau erzählen, ohne dass ich in irgendein Fettnäpfchen trete oder dass man den Eindruck gewinnen könnte, ich würde mich über ihre möglichen charakterlichen Eigenschaften lustig machen.

Also, diese besagte Dame ist seit Monaten damit beschäftigt, die beiden Zimmer begehbar zu machen, in denen ihr verstorbener Mann all seine Wertsachen, also Sachen, die für ihn wertvoll waren, aufbewahrt hat.
Hierbei handelt es sich um kleine, ganz kleine, große und auch größere Dinge, die sich so in den letzten Jahrzehnten angesammelt haben.
Die Zimmer haben übrigens mehrere Bezeichnungen - wofür sie halt gerade genutzt wurden und wofür eben kurzzeitig Platz gebraucht und freigemacht werden sollte:
Computerzimmer, Werkstatt, Hundezimmer, Spielzimmer, Bastelzimmer, Arbeitszimmer, Fernsehzimmer, Keller, Schlafraum, Abstellraum . . .
Aber das nur so nebenbei.

Da die ältere Dame wohl irgendwann aus dieser großen Wohnung ausziehen wird, bleibt ihr nichts anderes übrig, als diese vielen Dinge in verschiedene Kategorien zu ordnen:
wird behalten,
wird verschenkt,
wird verkauft,
wird zurückgegeben
und als allerletzte Möglichkeit: kann weg.

Die vielen Gedanken, die ihr dabei so durch den Kopf gehen, kann ich leider nicht alle beschreiben - es sind einfach zu viele.
Aber einige picke ich mal raus und erzähle sie Euch.

Zu der Kategorie "wird zurückgegeben" gehörten nur zwei Dinge:
Erstens gab es da ein riesiges Foto mit Rahmen (also es ist wirklich riesig, ca. 1m x 1,4m) worauf seine ganze Dienst-Mannschaft einschließlich der Familien während eines Jahres-Grillfestes zu sehen war.
Zweitens war da noch ein Kleinflugzeug-Propeller in Originalgröße, den er von ebendieser Mannschaft als Abschiedsgeschenk bekommen hatte.
Da die ältere Dame wusste, dass es einen Kollegen gab, der das alles damals mit sehr viel Liebe und Sorgfalt organisiert hatte, rief sie ihn an.
Er war begeistert, zeigte augenblicklich großes Interesse und freute sich über das Angebot, die beiden Dinge zurückzuholen.
Wahrscheinlich hat dieser Kollege auch so ein ähnliches Zimmer, wo all solche Wertsachen einen gebührenden Platz finden könnten.

Nach dem Telefonat setzte sie sich noch eine ganze Weile vor dieses Bild und den Propeller und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
Ich habe mal heimlich reingehört:

"Das kann ich unmöglich mitnehmen, wenn ich umziehe. Das ist viel zu groß! Auch wenn da ganz viele Erinnerungen dranhängen!
Das wirst du doch verstehen, oder? (der Satz war wohl an ihren Mann gerichtet)
Wenn der Herr K. am Samstag kommt, werd' ich ihm wohl einen Kaffee oder etwas ähnliches anbieten, oder auch etwas Kuchen.
Ohje, ich hab' ja gar nichts gescheites im Haus, geh ich halt morgen nochmal einkaufen.
Wird er das jetzt als Kondolenzbesuch betrachten?
Was mach' ich, wenn er noch etwas mitbringt?
Blumen oder Konfekt oder sogar Alkoholisches?
Ich hätte ihm sagen sollen, dass ich keine Blumensträuße mag, dass ich abnehmen will und auf Schokolade schon eine Weile verzichte, dass ich keinen Alkohol trinke!
Ob ihn das überhaupt interessiert?
Blöd, warum hab ich ihm nicht gesagt, dass er nichts mitbringen soll?
Wie lange wird er wohl hierbleiben?
Hab ich überhaupt ein interessantes Gesprächsthema parat?
Früher war das ja immer üblich, etwas mitzubringen, wenn man Besuche macht!
Mist, warum hab ich nicht gesagt, dass ich keine Geschenke erwarte, ich hab doch alles, was ich brauche!
Ich sollte doch immer genügend und genauer mit allen reden, damit es keine Missverständnisse gibt!
Nächstes Mal denke ich aber daran. Hoffentlich!"

So oder so ähnlich hörte sich das an.

Der Tag der Abholung kam und wieder purzelten die Gedanken der älteren Dame durcheinander:
"Ich werde ihm noch eine Decke zum Einwickeln für das Bild dazulegen, nein eher zwei, denn der Propeller braucht ja auch einen Schutz.
Hoffentlich wird er nicht zu rührselig, sonst muss ich wieder heulen.
Ob er wohl von der Dienstzeit erzählt? Da kenne ich noch so einige Episoden und könnte mitreden.
So, der Tisch ist gedeckt, nun könnte er kommen."

Und dann kam er, der Herr K. - mit weit mehr als einstündiger Verspätung.

"Hallo, da bin ich. Ich hab nicht viel Zeit. Wo sind denn die schönen Sachen von meinem Chef?
Ah, eine Decke zum einpacken. Danke. Wär aber nicht nötig gewesen. Und wie geht's sonst?
Ah, gut. Dann vielen Dank noch, dass Sie an mich gedacht haben und Tschüss. Ich ruf mal wieder an."

So oder so ähnlich hörte sich das jedenfalls an.

Die Wirkung war erstaunlich.

Die ältere Dame plumpste auf ihren Stuhl und dann purzelten wieder die Gedanken:
“Hey, was war das denn.
Das ist doch kein Besuch.
Der bringt ja nicht mal was mit?
Wozu habe ich mir dann solche Gedanken um Mitbringsel gemacht.
Das ist doch total unhöflich.
Was hat der denn für eine Erziehung?
Nicht mal einen kleinen Strauß dieser kleinen toten Blümchen, die ich ja sowieso lieber mit Wurzeln im Beet mag, keine Trüffel, die eh nur dick machen und nicht mal einen Schluck Eierlikör, um meine Trauer zu betäuben - das geht doch gar nicht!
Er kommt, nimmt und geht wieder.
Wenigstens nach meinem Gemütszustand hätte er sich erkundigen können,
hat er ja - aber nicht genug!
Also, das geht ja überhaupt nicht!”

Beim Mithören dieser Gedanken war ich ehrlich gesagt total entsetzt .
Diese Reaktion, diese Gedanken-Veränderung kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.
Erst will sie nix haben, kriegt auch nix,
dann will sie keine Trauergespräche, bekommt sie auch nicht
und dann hätte sie doch lieber wieder alles gehabt?
Ja, was ist denn nun richtig oder nicht und warum meckert sie?

Vielleicht hätte der Herr K. doch etwas mitbringen sollen, ein bisschen mehr Zeit, dann wäre ihre Welt möglicherweise wieder in Ordnung gewesen.

Ich werde mich in Zukunft mehr zurückhalten, wenn ich versuche, die Gedanken anderer Menschen zu empfangen.
Verstehe einer ältere Damen!
 
Ui das hast Du aber sehr schön geschrieben.
Die ältere Dame mochte nichts, aber erwartet hat sie (unbewusst) schon etwas. Einfach aus Anstand oder/und als kleine Aufmerksamkeit/Anerkennung/Dankbarkeit/Höflichkeit. Nicht mal das kostbarste was er ihr hätte schenken können - seine Zeit - gab es!

Das ist schon traurig und sehr unhöflich. Also ich kann die ältere Dame schon gut verstehen :)
 
Es gibt halt so Menschen wie die ältere Dame, die machen sich um alles Mögliche eine ziemliche Raste. Da wird jede Eventualität in Betracht gezogen und jedes sich daraus ergebende Szenario gedanklich durchgespielt. Ich gehöre zu dieser Gruppe. Dann gibt es natürlich auch Menschen, die leben mehr oder weniger vor sich hin und versuchen jede Situation spontan zu meistern. Möglicher Weise gehört der Herr K. zu dieser Gruppe.

Es ist aber auch nicht auszuschließen, das der Herr K. zur ersten Gruppe gehört, sich um alle Möglichen Szenarien eine Raste gemacht hat und darauf hin den einfachsten und schnellsten Weg gewählt hat. Nur weil er den schnellsten Weg gewählt hat, heißt das noch lange nicht, dass er nicht auch darüber nachgedacht haben könnte. Vielleicht wollte Herr K. ein Geschenk mitbringen. Und vielleicht wollte Herr K. auch ein bisschen plaudern. Aber wie der Herr K. so über all das nachgedacht hat, kam ihm plötzlich in den Sinn, dass es der älteren Dame überhaupt nicht Recht sein könnte. Und bevor Herr K. irgendeinen Fehler macht, der am Ende furchtbar peinlich ausgeht, hat er sich für das Minimalprogramm entschieden.

Persönlich finde ich es extrem schwierig, für jemanden die richtigen Worte zu finden, dem ein lieber Mensch verstorben ist.
Tatsächlich finde ich jegliche Art von Floskeln, auch die "Mein herzliches Beileid" Floskel einfach gesagt bescheuert. Meiner Meinung nach sagt das nichts aus. Das wird von jedem in jeder passenden Situation gesagt. Wenn ich erfahre, das jemandem nahe Stehender verstorben ist, denke und sage ich i.d.R. "was für eine riesen Scheiße". Weil das trifft es irgendwie viel mehr, als "mein Beileid". Aber ich denke auch anders als die Anderen. ;)

Ein Tipp noch an die ältere Dame. Wenn die Sachen wegkommen, wie das Bild, das Flugzeug oder andere persönliche Erinnerungen, die nicht mitgenommen / aufbewahrt werden können, einfach mit dem Smartphone / der Kamera ein Bild machen. Das kann man bei Bedarf auch mal angucken. In unserer Galerie sind auch so ein paar Kandidaten. Menschen, die man nie wieder treffen wird, aber trotzdem noch sehen kann.
 
Es ist aber auch nicht auszuschließen, das der Herr K. zur ersten Gruppe gehört, sich um alle Möglichen Szenarien eine Raste gemacht hat und darauf hin den einfachsten und schnellsten Weg gewählt hat. Nur weil er den schnellsten Weg gewählt hat, heißt das noch lange nicht, dass er nicht auch darüber nachgedacht haben könnte.
Danke, von dieser Richtung habe ich das noch gar nicht betrachtet.
Ein Tipp noch an die ältere Dame. Wenn die Sachen wegkommen, wie das Bild, das Flugzeug oder andere persönliche Erinnerungen, die nicht mitgenommen / aufbewahrt werden können, einfach mit dem Smartphone / der Kamera ein Bild machen.

Das hat die ältere Dame auch gemacht.
 
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