Edle Tannen
Ein authentischer Fall von 1993
Der Mann schaute sich suchend in dem provisorisch hergerichteten Maschendrahtgeviert um, in dem Weihnachtsbäume verschiedenster Art und Größe lagen und lehnten. Fichten neben Silber- und Nordmannstannen, Edel- und Blautannen, sogar ein paar Kiefern waren darunter.
„Was kosten die denn so?“ fragte der Mann den Christbaumverkäufer, der Ohrenschützer trug und sich eine rotweiße Pudelmütze über den Kopf gestreift hatte.
„Kommt drauf an, was Sie haben wollen“, brummte der verdrossen und rieb sich seine blaugefrorenen Hände. „Fichten gibt's ab zehn Mark, Tannen ab 25, Edeltannen ab 40 Mark. Hängt aber von der Größe ab.“
Der andere Mann nickte und schaute interessiert zu den Edeltannen. „Ich habe schon an eine Edeltanne gedacht“, meinte er.
Das Gesicht des Christbaumverkäufers erhellte sich merklich in Erwartung eines anständigen Geschäftes. Der Absatz von teuren Bäumen war bisher eher schleppend gewesen.
Er schlug den Kragen seines grünen Drillkittels hoch, stelzte zu den Edeltannen, nahm eine mittelgroße vom Maschengeflecht und stellte sie hin, wobei er die Zweige zurechtrückte.
„Mmmh“, meinte der Mann, „hübsches Bäumchen. Wie teuer?“
„Sechzig“, sagte der Christbaumverkäufer.
Der Mann zuckte gleichmütig die Schultern. „Na schön. Den nehme ich.“
Während der Baumverkäufer die Edeltanne in einen grünen Plastiknetzstrumpf packte, holte der andere Mann seine Geldbörse heraus, öffnete sie und blätterte im Scheinfach.
„Hier“, meinte er dann, wobei er dem Christbaumverkäufer einen Schein reichte, „kleiner hab' ich's aber leider nicht. Können Sie darauf rausgeben?“
Der Christbaumverkäufer warf einen kurzen Blick auf den 500-Mark-Schein, den der Mann ihm hinhielt, und nickte. „Kein Problem“, sagte er.
Minuten später hatte der Mann mit der Tanne das Geviert verlassen, sie auf das Fahrrad gelegt, mit dem er gekommen war, und verschwand.
Herbert Driesel blieb mißtrauisch stehen, als der ihm entgegenkommende Mann, der ein Fahrrad mit einer Edeltanne darauf schob, ihn ansprach. „Haben Sie schon einen Weihnachtsbaum?“ fragte der Mann.
Driesel schüttelte verdutzt den Kopf. „Nein“, erwiderte er, „aber...“
„Wollen Sie den hier?“ fragte der Mann.
Bevor Driesel darauf antworten konnte, fügte der Mann hinzu: „Ich schenke ihn Ihnen.“
„Na, wenn das so ist“, meinte Driesel erfreut. „Den nehme ich gerne.“
„Fröhliche Weihnachten“, sagte der Mann und ließ die Edeltanne vom Fahrrad gleiten.
Driesel hob sie auf und bedankte sich bei dem großzügigen Spender. „Aber warum machen Sie das eigentlich?“
Der Mann grinste: „Ich bin der Weihnachtsmann.“
Driesel lachte. Bevor er noch etwas sagen oder fragen konnte, hatte der Mann sich auf sein Fahrrad geschwungen und war verschwunden.
„Das ist natürlich für Sie eine schöne Bescherung“, meinte Kommissar Sengdeil mitfühlend zu seinem Gegenüber.
Er deutete auf das Stück Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und schüttelte den Kopf.
„Bescherung ist gut gesagt“, erwiderte der Christbaumverkäufer im grünen Kittel wütend. „Eine Sch.... ist das sondergleichen!“ Seine Ohrenschützer und die rotweiße Pudelmütze hatte er abgenommen.
Der Mann starrte auf das Papier und biß sich auf die Unterlippe.
„Fünfhundert Mark zum Teufel, und dazu noch der Baum“, knirschte er dann bitter. „Und das nur wegen dieser dämlichen Kassiererin.“
„Tja, die hat nur ihre Pflicht getan“, meinte Sengdeil schulterzuckend. „Der dürfen Sie keinen Vorwurf machen., Herr Paulig. Ich kann Ihren Ärger ja gut verstehen, aber ich sag's Ihnen gerne noch einmal: Kassierer bei Sparkassen und Banken sind dazu verpflichtet, Falschgeld einzuziehen. Die würden sich sogar strafbar machen, wenn sie es nicht täten.“
Der Christbaumverkäufer namens Paulig nickte unwillig.
„Ist zwar kein Trost für Sie“, fuhr Sengdeil fort, „aber Sie sind nicht der einzige, der so geschädigt worden ist.“
„Versteh' ich nicht.“ Paulig schaute den Kriminalbeamten vom Falschgelddezernat verständnislos an.
„Allein in der letzten Woche sind achtzehn solcher Blüten aufgetaucht“, erklärte Sengdeil. Er konnte dabei ein Schmunzeln nicht ganz unterdrücken.
„Achtzehn?“ echote Paulig, um dann zu fragen, als er das Schmunzeln sah: „Was ist denn daran so komisch?“
„Mit allen achtzehn wurden Weihnachtsbäume gekauft, so wie bei Ihnen.“
Pauligs Unterkiefer sackte herunter. „Ist doch nicht möglich“, sagte er dann.
„Oh, doch. Das dürfen Sie mir glauben“, versicherte ihm der Kommissar. „Verstehen Sie jetzt, warum es sehr wichtig wäre, wenn Sie mir eine Beschreibung des Mannes geben könnten, Gesichtsform Haarfarbe, Augenfarbe, Größe, Kleidung und so weiter?“ Er schaute Paulig fragend an.
Der kratzte sich den Kopf. „Eigentlich habe ich ihn mir nicht so genau angesehen. Ein ganz durchschnittlicher Mann. Vielleicht einssiebzig groß, etwas untersetzt, aber nicht dick. Grauhaarig, würde ich sagen. Ja“, meinte er dann, „und er hatte ein rotlackiertes Fahrrad dabei.“
„Das ist nicht viel, aber besser als nichts“, erwiderte Sengdeil. „Es deckt sich übrigens mit dem, was Ihre Kollegen uns erzählt haben. Und sonst“, forschte er dann, „ist Ihnen vielleicht sonst irgendwas aufgefallen?“
Paulig überlegte sichtlich angestrengt. „Nee“, meinte er schließlich. „Was soll mir aufgefallen sein? Oder, warten Sie. Vielleicht war das ja ein Zufall... aber da kam ein Mann mit einer Edeltanne unterm Arm aus der Richtung, in der der Kerl verschwunden war. Ich erinnere mich deshalb daran, weil teure Bäume in diesem Jahr nicht gut laufen.“
Sengdeil grinste. „Paßt genau.“
„Was meinen Sie denn damit?“ wollte Paulig wissen.
„Der Bursche verschenkt die Bäume offensichtlich anschließend“, klärte ihn der Kommissar auf und lachte kurz. „Humor hat er ja. Das muß man ihm lassen. Tut mir leid für Sie, Herr Paulig, aber nochmals danke.“
Der Christbaumverkäufer erhob sich, nahm Ohrenschützer und Pudelmütze, warf einen letzten begehrlich-bekümmerten Blick auf den falschen Fünfhunderter, der auf dem Schreibtisch lag, und verließ das Büro.
Während der mächtige Farbkopierer falsche Fünfhunderter ausspuckte, zählte Schlotteck seine Beute. Säuberlich bündelte er seine Tageseinnahme an Wechselgeld auf dem kleinen Tisch in Hunderter, Fünfziger, Zwanziger und Zehner.
Bei einem Hunderter hielt er inne, befühlte ihn sorgfältiger als die anderen, hob ihn vor die UV-Lampe, betrachtete den Schein und grinste. „Nicht schlecht gemacht“, murmelte er halblaut, legte die Blüte aber beiseite.
Als Schlotteck mit dem Zählen fertig war, lagen 12.310 Mark vor ihm. In echten, gebrauchten Scheinen. „Macht zusammen“, er krauste kurz die Stirn, „34.320. Abzüglich Leasingkosten für den Kopierer“, wieder legte er die Stirn in Falten, „32.320 Märker.“ Er rieb sich die Hände.
Schlotteck stand auf, trat an den Kopierer und nahm den Stapel bedruckten Papiers aus dem Ausgabeschacht. Er schaltete den Kopierer ab und setzte sich wieder an den Tisch, wo er zu einer Schere griff, um mit dem Ausschneiden zu beginnen. „Morgen, Kinder, wird's was geben, summte er dabei.
Um 14 Uhr vergewisserte Sengdeil sich nochmals. „Lametta, hier Weihnachtsblüte. Alles in Position?“ Er lauschte erwartungsvoll. „Lametta 1 in Position, Weihnachtsblüte“, kam es etwas rauschend aus dem Funkgerät. Aus dem Hintergrund war weihnachtliches Stimmgewirr zu hören.
Die nächste Meldung erfolgte sofort darauf: „Lametta 2 in Position, Weihnachtsblüte.“
So ging es weiter. Alles war bereit. Sieben Männer und zwei Frauen hatte Sengdeil postiert. Jetzt blieb nur zu warten und zu hoffen, daß der Bursche auch wirklich kam.
Sengdeil überlegte. In den letzten Tagen hatten sie den Weg des Fälschers fast komplett rekonstruieren können. Die Standplätze der Christbaumverkäufer, bei denen er seine Fünfhunderter-Blüten abgesetzt hatte, lagen zwar wahllos über die ganze Stadt verstreut, aber interessanterweise ergab der Weg des Gauners eine Spirale. Das jedenfalls zeigten die bunten Markierungsnadeln, die auf den Stadtplan gesteckt worden waren.
Der „Weihnachtsmann“, wie sie ihn nannten, hatte in den Außenbezirken angefangen und würde - wenn ihn nicht alles trog - heute, am 23. Dezember, zum großen Finale auf dem Christkindlmarkt auftauchen. 16 Uhr war die übliche Zeit seines Erscheinens gewesen. Zeit der beginnenden Dämmerung.
Die Falsifikate waren von durchschnittlicher Qualität, für geübtes Auge und geübte Hand sofort zu erkennen. Aber in der Weihnachtshektik achtete kaum jemand darauf.
„Hier Lametta 3, Weihnachtsblüte. Nichts Auffälliges“, kam es aus dem Handfunkgerät.
„Verstanden, Lametta 3.“
„Lametta 5, Weihnachtsblüte. Dito“, meldete sich Inga, die am Imbiß neben dem Rathausbrunnen stand.
„Wir warten“, erklärte Sengdeil. Er schaute Krause an, der ihm gegenüber an dem Fenstertisch saß. „Was wettest du, Rudi?“
„Fünfzig, daß er nicht kommt. So blöd wird der nicht sein, Werner“, erwiderte Rudi und legte einen Fünfziger auf den Tisch.
„Hundert, daß er kommt“, entgegnete Sengdeil zuversichtlich. Er holte einen Hunderter heraus.
Krause grinste. „Ich halte mit. Die Wette gilt.“ Er legte noch fünfzig dazu.
Gegen halb acht begannen die ersten Verkäufer, ihre Buden zu schließen. Das Treiben auf dem Markt ließ merklich nach. Keine Spur vom „Weihnachtsmann.“
„Und jetzt, Werner?“ Krause schaute seinen Chef erwartungsvoll an. „Laß uns abbrechen. Der kommt garantiert nicht!“
Kommissar Sengdeil nickte bedächtig, biß sich auf die Unterlippe und strich sich übers Haar. „Okay“, sagte er. „Blasen wir die Aktion ab. Sag denen draußen Bescheid.“
Er schob Krause den Hunderter rüber, der ihn an sich nahm und fast verlegen meinte: „Das tut mir echt leid, Werner.“
„Dir doch nicht, Rudi“, feixte Sengdeil. „Wir treffen uns in einer Stunde im Sprökenstadl.“
„Also feiern willst du trotzdem?“ Krause tat erstaunt.
„Sagen wir, wir begießen die Niederlage angemessen.“
Sengdeil erhob sich, nickte seinem Kollegen zu und verließ das Lokal. „Ich gehe rüber zu Inga.“
Halb erleichtert, halb frustriert seufzte Kriminalassistentin Inga Glowick, als die Mitteilung kam, daß der Einsatz beendet sei. Über sechs Stunden hatte sie in der Kälte gestanden und, wie ihre Kollegen gespannt darauf gewartet, daß der Mann kam.
Werner Sengdeil tat ihr leid. Und natürlich hätte der Erfolg ihnen allen gutgetan. Gerade heute, wo die Weihnachtsfeier anstand. Inga schaute auf die Uhr. Hoffentlich kam Werner schnell, der sie in seinem Wagen mitnehmen wollte. Sie warf einen Blick zu dem Lokal hinüber, von wo aus er mit Rudi den Einsatz geleitet hatte.
Die Eingangstür öffnete sich. Werner trat heraus und ging langsam auf sie zu. Seine Schultern waren gesenkt.
Inga wollte sich in Bewegung setzen, als es hinter ihr klingelte und eine Männerstimme sie fragte. „Verzeihen Sie, aber haben Sie schon einen Weihnachtsbaum?“
Die Kriminalassistentin glaubte ihren Ohren nicht zu trauen und drehte sich ungläubig um. Hinter ihr stand ein ausgemachter Weihnachtsmann mit wallendem Wattebart und Lockenperücke, rotem Mantel und einem Fahrrad.
Das Fahrrad war rot lackiert. Und darauf lag, säuberlich zusammengeschnürt, eine Edeltanne.
„Nein, aber...“, setzte Inga verdutzt an und überlegte fieberhaft.
„Wollen Sie den hier?“ fragte der Weihnachtsmann.
Bevor Inga darauf antworten konnte, fügte der Mann hinzu: „Ich schenke ihn Ihnen.“
„Na, wenn das so ist“, meinte Inga Glowick erfreut, „dann nehme ich ihn gerne.“
Sie griff in die linke Innentasche ihres Parka. „Aber Sie werden doch erlauben“, sagte sie, „daß ich Ihnen als Dank auch eine Freude mache.“
Der Weihnachtsmann stutzte überrascht. „Womit?“
„Damit“, sagte Inga und ließ die Handschellen um den Arm schnappen, mit dem er das Fahrrad führte. „Sie sind verhaftet.“
Der Weihnachtsmann versuchte instinktiv, sich loszureißen. Vergebens.
Sekunden später war Kommissar Sengdeil bei den beiden und nahm ihm Perücke und Bart ab. „Na, sieh einer an, wen haben wir denn da?“ sagte Sengdeil erfreut. „Den Weihnachtsmann!“ Und zu seiner Kollegin gewandt: „Fröhliche Weihnachten, Inga!“
„Fröhliche Weihnachten, Werner!“ sagte sie und lachte. „Aber mit der Feier wird's wohl heute nichts.“
„Wir kommen später nach“, versicherte Sengdeil. „Sag den anderen Bescheid, sie sollen ohne uns anfangen.“ Er durchblätterte das dünne Bündel nagelneuer Banknoten, das er in Schlottecks Weihnachtsmannmanteltasche gefunden hatte. Acht Fünfhunderter. Blüten natürlich.
Als Sengdeil und Inga Glowick kurz nach elf Uhr abends in das Lokal Sprökenstadl kamen, herrschte dort eine Bombenstimmung.
Rudi Krause schüttelte Sengdeil die Hand. „Glüchwunsch, Werner, du hast mal wieder den richtigen Riecher gehabt. Glück für dich, Pech für mich. Hier.“ Er reichte Sengdeil den Hunderter, den dieser ihm gegeben hatte. „Und hier.“ Er gab ihm die zwei Fünfziger.
„Moment mal“, sagte Sengdeil, stutzte und musterte überrascht den Hunderter.
„Was ist?“ wunderte sich Rudi.
„Sieh dir den mal genauer an“, meinte Kommissar Sengdeil trocken.
Rudi stutzte seinerseits, tastete, hielt ihn ins Licht und schüttelte dann den Kopf. „Das darf nicht wahr sein, und sowas passiert ausgerechnet uns!“ sagte er, als er sah, daß es eine Blüte war.
„Gib ihn nach den Feiertagen in der Asservatenkammer ab“, mahnte Sengdeil.
Rudi nickte und wollte sich wieder zu den anderen an den Tisch setzen.
„Moment mal, Rudi“, sagte Sengdeil und hielt die Hand auf. „Du bist mir noch einen Hunderter schuldig.“
„Schlitzohr“, knurrte Rudi.
Dann lachten beide.