chmul gegen die Alpen

chmul

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Ich hab’s versucht. Das muss man mir zugutehalten. Der Wille war da. Aber wenn passiert was passiert ist, dann ist es eben recht schnell wieder vorbei mit den guten Vorsätzen. Aber von vorne: Bezüglich der Vorsätze für das neue Jahr halte ich es wie der größte Teil der Bevölkerung. Nach einigen erfolglosen Jahrzehnten habe ich es aufgegeben. Für 2023 wollte ich es aber doch noch einmal wissen.

Zum besseren Verständnis der folgenden Zeilen sei (ein weiteres Mal) erwähnt, dass ich kein Fan von Wanderungen bin. Akzeptabel sind Wanderungen für mich nur, wenn der Weg mehr oder minder eben verläuft und sie nicht allzu lange dauern. Die zweite wichtige Information ist, dass mein Schatz sehr gerne wandert. Was ich als akzeptable Wanderung ansehe, ist für sie ein kurzer Spaziergang.

Mein Vorsatz für 2023 lautete folgendermaßen: Ich werde dieses Jahr nicht mehr jeden Wandervorschlag mit deutlicher Abneigung zur Kenntnis nehmen und mich auch bemühen, wenn es dann so weit ist, nicht die ganze Zeit still zu leiden und wortlos mein Schicksal zu tragen, sondern zumindest den Gedanken zuzulassen, dass eine solche Wanderung auch positiv bewertet werden könnte.

Natürlich stand ich am ersten Januar nicht in voller Wanderausrüstung neben dem Bett, voller Ungeduld, wann meine Angebetete denn nun aufwachen würde und es endlich losginge. Wir wollen die Kirche ja im Dorf lassen.

Aber immerhin hatte ich meine Gesichtszüge im Griff und simulierte erfolgreich eine fröhliche Grundstimmung beim Frühstück. Das Wetter versprach gut zu werden und die Anfahrt zur Talstation verlief problemlos. Kein Stau, keine Menschenmassen. Läuft bei uns, dachte ich mir und begann zu glauben, dass wohl etwas dran sein müsse an der Theorie des «Positive Thinking». Aber ich hätte schon argwöhnisch werden müssen, als ich am Vortag die positive Wetterprognose gelesen habe. Dann auch noch pünktlich am Bahnhof und kein Gedränge im Zug? Das ist doch zu schön, um wahr zu sein. War es auch, aber das sollte ich erst einige Zeit später erfahren.

Unsere erste Wanderung im neuen Jahr sollte uns nach einer Bahnfahrt zur Kleinen Scheidegg über den Panoramaweg zum Männlichen führen. Ein sogar für mich vertretbarer Wanderweg mit tollem Blick auf das eindrucksvolle Dreigestirn aus Eiger, Mönch und Jungfrau. Auf der anderen Seite angekommen, sollte es dann mit der Gondel zurück ins Tal gehen.

Vom Bahnhof her führte der Weg eine kleine Anhöhe hinauf, von wo aus wir unsere Wanderung starten wollten. Ja korrekt, richtig gelesen. Wollten! Der Panoramaweg war nämlich gesperrt. Wegen Steinschlag und Lawinengefahr. Ich werde nun nicht schreiben, dass ich derart positiv gedacht hatte, dass ich nun ein kleines bisschen enttäuscht war, denn das wäre schlicht gelogen gewesen, aber ich habe auch nicht gleich einen Freudentanz aufgeführt, weil dieser Kelch an mir vorbeigegangen war. Und das war auch gut so, die Freude wäre verfrüht gewesen.

Meine Freundin schlug dann nämlich vor, stattdessen eben eine andere Wanderung zu machen und nahm diesen Vorschlag auch gleich einstimmig an. Ich bin mir nicht sicher, aber die eine Gegenstimme war vermutlich ungültig. Sei’s drum, neuer Plan: Talwärts zum Bahnhof Alpiglen. Distanz etwa fünf Kilometer mit netto knapp 500 m Höhenunterschied. Nicht das Gelbe vom Ei aber zumindest weniger anstrengend als bergauf, oder?

Also Simulation wieder hochgefahren, aber nur um gleich den nächsten Dämpfer zu erleben. Auch dieser Weg war gesperrt. Stand da zumindest. Das war aber leider erst zu erkennen, als wir zwanzig Meter den Hang runtergeschlittert waren. Also haben wir uns wieder nach oben gekämpft, wo die Chefin des Hauses dann einen der Zugführer ansprach, um zu erfahren, ob der Weg tatsächlich nicht begehbar sei. «Kein Problem!» meinte der, wobei ich mir insgeheim dachte, dass er mit seiner Zahnradbahn natürlich kein Problem hatte. Aber das behielt ich für mich. Positive thinking, Ihr wisst schon.

Anfangs war der Weg auch tatsächlich OK. Hier und da zwar etwas rutschig aber mit einem Mindestmaß an Vorsicht ohne akute Lebensgefahr begehbar. Und mit anfangs meine ich, die ersten zwei-, dreihundert Meter. Dann wurde es nämlich übel. Ganz übel! Nach ein paar Kurven war der Weg nämlich komplett vereist. Man konnte sich nur noch ganz am Rande einigermaßen rutschfrei bewegen. Und das war schon recht nervig.

Aber hey, es waren ja nur noch knapp 4.5 km. Hatte ich die 500 Höhenmeter erwähnt? Die machten unsere Wanderung nämlich endgültig zum Erlebnis. Und meine Bemühungen, das Positive dieser Expedition ins Ungewisse zu sehen, erwiesen sich mit jedem Ausrutscher mühsamer.

Ich war gerade das dritte oder vierte Mal auf dem Hintern gelandet, als ich von hinten jemanden schnell herannahen hörte. Schon klar, jeder der nicht wie ich immer wieder auf dem Hosenboden landete, war schneller, aber das hörte sich übertrieben schnell und vor allem leichtfüssig an. Ich glaube, Trailrunning nennt sich die Sportart, die mir da von einer Dame mit Hund demonstriert wurde. Ich habe mir vermutlich genau da eine Mandelentzündung eingefangen, weil mir die Kinnlade runterfiel und der Mund zu lange aufblieb.

Ja, ich bin untrainiert. Und ja, ich bin übergewichtig. Und ja, die Dame war vermutlich gut 25 Jahre jünger als ich. Aber man kommt sich trotzdem ein wenig doof vor, wenn man sich mit etwas abmüht, das andere ganz locker bewältigen. Positive Thinking am Arsch! Oder in meinem Falle wohl eher auf dem selbigen.

Aber es half ja nichts, inzwischen waren wir schon zu weit gekommen, um wieder umzukehren. Abgesehen davon, dass einen eisglatten Weg hinaufzulaufen sicher noch frustrierender ist, als immer mal wieder ein paar Meter auf dem Hosenboden talwärts zu schlittern. Immerhin hatte ich zumindest hier und da mal etwas zu lachen, weil unser Hund mit vier Beinen zwar deutlich im Vorteil war, dafür aber keine Vorstellung von eisglatten Wegen und knöcheltiefem Schnee hatte. Das sah schon witzig aus, wenn sich plötzlich ein bis drei Beine in unterschiedliche Richtungen bewegten, weil das mit dem Grip nicht so gut funktionierte.

Es gibt im Internet einen vielzitierten Spruch, der mir diesbezüglich zwangsläufig in den Sinn kommt: «Karma is a bitch!» Das bedeutet in diesem Falle, dass sich Schadenfreude rächt. Auf dem nächsten Eisfeld rutschte ich nämlich nicht einfach so weg. Nein, mein rechter Fuß verabschiedete sich mangels Reibung überraschend schnell nach vorne, während mein linker Fuß einfach an Ort und Stelle verharrte. Von der Seite im richtigen Moment fotografiert, hätte ich vermutlich ausgesehen, als würde ich einen Kosakentanz aufführen. Sogar jetzt noch beim Schreiben dieser Zeilen spüre ich die grenzwertige Überspannung sämtlicher Sehnen und Muskeln und wundere mich, weshalb ich nicht einfach bewegungslos liegen blieb, sondern mehr oder minder unverletzt weiterrutschen konnte.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt, war es mir nicht mehr möglich gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dass sich unser Hund und meine Freundin lachend in den Armen lagen, half da übrigens auch nicht. Aber es half ja nichts, inzwischen waren wir … bla bla bla.

Eine Weile später kamen wir an eine Stelle, von der aus man den Verlauf des Weges einige Hundert Meter weit einsehen konnte. Vor uns lag eine langgezogene Kurve mit erheblichem Gefälle. Na prima. Noch mehr na prima, weil sich unten eine Senke befand. Und das bedeutet, dass es auf der anderen Seite wieder aufwärtsging. Ich überlegte mir schon, ob ich versuchen sollte, ab einem gewissen Punkt absichtlich zu rutschen in der Hoffnung, so viel Schwung zu haben, dass ich wenigstens ein Stück der gegenüberliegenden Steigung hochschlittern würde.

Bei meinem Glück an diesem Tag, hätte ich zwar vermutlich tatsächlich genug beschleunigt, wäre aber dann aber vom Weg abgekommen und einige Tausend Meter in die Tiefe gestürzt. Keine gute Idee. Obwohl, dann hätte dieses Drama wenigstens ein Ende gehabt. Oder zumindest würde mich die Luftrettung der Rega wieder ins Tal bringen. Während ich noch grübelte, hatte meine Herzallerliebste eine Idee.

Spuren im Schnee neben dem Weg verrieten, dass vor uns jemand eine Abkürzung genommen hatte und direkt hangabwärts durch den Schnee gestapft war. Es war zwar nicht die ganze Ausweichroute einsehbar, aber vermutlich führten die Spuren ebenfalls zur Senke hinunter. Weniger Weg und weniger Eis. Das klang gut, auch wenn ich mir in den ersten Minuten nicht sicher sein konnte, ob wir wirklich zur Senke kommen oder auf dem Weg nicht über einen steifgefrorenen, leblosen Körper stolpern würden, der es zu Lebzeiten für eine gute Idee hielt, eine Abkürzung zu nehmen.

Abgesehen von elf Litern Schnee, die sich von unten in meine Hosenbeine und von oben in meine Schuhe schoben, erwies sich die Abkürzung nicht nur als gute Wahl, auch der Anstieg auf der anderen Seite war nicht so schlimm wie befürchtet. Tatsächlich kam nach der nächsten Kurve sogar der Bahnhof in Sicht, wir waren also kurz vor dem Ziel. Hoffnung machte sich breit, Licht drang in mein inzwischen sehr dunkles Gemüt. Da machte es dann auch nichts mehr, dass uns der Zug praktisch vor der Nase wegfuhr. Es würde ja wieder einer kommen und den würde ich besteigen können, ohne wieder auf dem Hintern zu landen. Alles gut.

Nach einem solchen Erlebnis sollte jeder verstehen, dass das Thema «Hochalpine Winterwanderungen» für mich damit abgeschlossen war. Und ich kann mit Stolz behaupten, dass ich dieser Linie treu blieb. (Ende erster Teil)

Zumindest bis wir drei Wochen später wieder nach Grindelwald fuhren. (Anfang zweiter Teil)

Ich hatte den ersten Versuch den Panoramaweg zu gehen trotz aller Strapazen und unglücklichen Fügungen irgendwie überstanden. Und als mein Liebling dann durch das Tourismusbüro erfuhr, dass der Panoramaweg dieses Mal geöffnet sei, wollte ich ihr, den Alpen, dem Winter und dem Panoramaweg noch eine Chance geben.

Das Wetter war wieder schön, es war wieder nicht das erwartete Gedränge und wegen der Temperaturen, sollten die vereisten Stellen an einer Hand abzuzählen sein. OK, das war beim ersten Anlauf auch schon so. Der ganze Weg war vereist und damit hätte sogar ein Finger zum Zählen gereicht. Obwohl, wenn man nur auf eins zählen muss, dann braucht man nicht mal einen Finger. Das geht auch im Kopf. Aber ich schweife ab.

Wir kamen wieder auf er Kleinen Scheidegg an und der geplante Weg war wieder gesperrt. Und das würde auch so bleiben, bis der Frühling kommt. Wie es sich für einen Sommerwanderweg gehört. Und was die Dame vom Tourismusbüro meinte, war der Winterwanderweg vom der Kleinen Scheidegg auf den Männlichen.

In diesem Zusammenhang eine Notiz an mein zukünftiges Ich: Wenn überall steht, dass der Wanderweg vom Männlichen zur Kleinen Scheidegg führt, dann kann man das natürlich auch anders herum angehen. Sollte man aber nicht.

Zurück zur Geschichte: Wir standen also vor der Wahl, auf einer der sonnenüberfluteten Terrassen der örtlichen Gastronomie etwas zu trinken, die Aussicht zu genießen und dann wieder ins Tal zu fahren. Mit der Bahn, mit der wir gekommen waren. Diese Option wurde von meiner Seite mit großer Mehrheit favorisiert. Man könnte aber auch einfach den Winterwanderweg ausprobieren. Und –wenig überraschend – taten wir das dann auch.

Wohlgemerkt obwohl eine Dame, die wir bezüglich des Weges gefragt hatten Folgendes sagte: «Man muss schon gut zu Fuß sein.» Weitere Notiz an mein künftiges Ich: Wenn jemand, der dort arbeitet und lebt sowas sagt, bedeutet das für mich: Tu’s nicht!

Vielleicht wäre mein künftiges Ich irgendwie aus der Sache rausgekommen, mir gelang das nicht. Und so machten wir uns auf dem schlimmsten Weg, den ich jemals erlebt habe. Ich würde ja gerne etwas Lustiges darüber schreiben, aber es war einfach eine Tragödie. Zuerst ging es etwa einen Kilometer recht locker. Das lag daran, dass es vor allem bergab ging. Was mich trotz der geringen körperlichen Beanspruchung aber nervös werden ließ, war der Verlauf des Weges. Der führte tendenziell eher weg vom Ziel als darauf zu. Und abwärts.

Da unser Ziel aber höher lag, als unser Startpunkt, musste jeder Meter, den wir talwärts wanderten danach wieder erklommen werden. Und hinzu kam dann noch der ursprüngliche Höhenunterschied. Nach jeder Kurve konnte man in der Ferne andere Irre sehen, die die gleiche Idee gehabt hatten wie wir. Nur waren die viel weiter oben und viel näher am Ziel. Nach jeder Kurve das gleiche. Nach jeder Kurve. Nach jeder.

Es war, als wollten mir die Alpen sagen, dass ich einfach nicht für diese Umgebung gebaut sei. Andere Wanderer und Skifahrer auf der nahegelegenen Piste müssen recht überrascht gewesen sein, als ich mich zum Eiger hindrehte und ihn anschrie: «Das habe ich auch nie behauptet!» Vielleicht habe ich das auch nicht geschrien. Vielleicht saß ich zu diesem Zeitpunkt auch einfach zusammengesunken im Schnee und habe mangels Kraft nur leise vor mich hingewimmert. Die letzte halbe Stunde vor dem Männlichen war eher verschwommen.

Wider Erwarten waren aber doch noch irgendwo Kraft- und Hoffnungsreserven in meinem Körper. Obwohl dieses andauernde bergauf Stapfen durch den rutschigen Schnee seinen Tribut gezollt hatte. Aber ich wusste, dass es nicht mehr weit sein konnte. Nach der nächsten Kurve würde ich das Ziel sehen können und es würden nur noch ein paar Hundert Meter sein.

Dem war auch so. Allerdings lag direkt vor uns ein letzter Anstieg. Ein Anstieg, der so steil war, dass ich versucht habe zu erkennen, wo die Ösen sind, um die Kletterseile zu befestigen. Zumindest kam es mir so vor. Es war furchtbar. Das Einzige was mich überhaupt noch auf den Beinen hielt (abgesehen von der Tatsache, dass ich vermutlich auch dem Rückweg irgendwo zusammenbrechen und erfrieren würde, wenn ich umdrehen wollte), war der Zustand meiner beiden Begleiter.

Auch mein Schatz war offensichtlich ausgelaugt und schleppte sich nur noch mit Mühe bergauf. Und selbst der Hund schien am Ende zu sein. Zumindest lag er mit dem Kopf im Schnee und schob sich nur noch mit den Hinterläufen langsam Richtung Ziel. Es ist sicher kein feiner Zug von mir, aber diese Schadenfreude hat mir vermutlich das Leben gerettet. Wir kamen tatsächlich an.

Das war’s. Nie wieder. Keine Chance, Ende Geländer. Punkt.

Bis im Frühjahr der Sommer-Panoramaweg aufmacht, versteht sich.
 
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Ich weiß gar nicht, warum Dir das "Wandern" so wenig Spaß gemacht hat. Ich habe jedenfalls beim lesen sehr viel Spaß gehabt und bin in Gedanken eifrig mitgeklettert und gerutscht. Dabei habe ich mindestens 500 g abgenommen!
Ich wünsche Dir für's nächstemal viel Durchhaltevermögen und trotz der nicht so schönen Erfahrung weiterhin «Positive Thinking»
 
Meine Freundin schlug dann nämlich vor, stattdessen eben eine andere Wanderung zu machen und nahm diesen Vorschlag auch gleich einstimmig an. Ich bin mir nicht sicher, aber die eine Gegenstimme war vermutlich ungültig.
Herrlich.......:ROFLMAO: Also für mich als Leser.....für dich wohl eher nicht. ;)
 
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