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Gruß, Rod
Essay: Der ungeliebte Hegemon
Von Thomas Knipp
Die Welt steht vor einem Krieg. Oder doch nicht? So eindringlich und nachhaltig sind wir schon lange nicht mehr auf einen Waffengang vorbereitet worden, von dem nicht feststeht, ob er überhaupt stattfindet. Und genauso nachdrücklich beherrscht Furcht die Diskussionen um die Jahreswende; sie dämpft nicht nur Festtagsfreuden, sondern auch Investitionsentscheidungen – persönliche und unternehmerische. Die imaginäre Invasion belastet die Weltwirtschaft, noch bevor sie begonnen hat. Amerika also rüstet zum letzten Gefecht mit Saddam Hussein. Oder doch nicht? So paradox es erscheinen mag: Es geht nicht um die aktuelle Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und dem Irak, sondern um die Strategie dahinter. Gibt es eine? Wenn ja: Welche? Und wie langfristig ist sie angelegt? Ist es eine Strategie, die Amerika mit seinen wichtigen Verbündeten erarbeitet oder zumindest teilt? Und: Wie verhalten sich diese Verbündeten? Antworten auf diese Fragen sind für die geostrategische Lagebeurteilung im nahenden neuen Jahr – und darüber hinaus – wichtiger als die Spekulation darüber, wann der Einmarsch in Bagdad denn nun beginnen möge.
Fast anderthalb Dekaden nach dem Ende des Kalten Krieges beginnt die westliche Staatengemeinschaft widerstrebend und eher reagierend denn agierend mit der Diskussion über einen neuen geostrategischen Sicherheits- und Politikentwurf. Es ist die Suche nach einer Blaupause für den Kampf gegen Terrorgruppen à la El Kaida und Staaten, die diesen Terror direkt oder indirekt unterstützen. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass es ein durchdachtes, breit diskutiertes, integriertes Konzept gäbe. Und das ist das Versäumnis nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern auch der Europäer, die weder durch einen gemeinschaftlichen Auftritt noch durch strategische Entwürfe glänzen. Europa scheint sich ohnehin in der Rolle des global schwächeren, lieber lamentierenden denn agierenden Partners zu gefallen, von dem Tatendrang doch nicht ernsthaft erwartet werden könne. Jedenfalls geht von Europa keine nennenswerte Initiative aus, die Diskussion um das neue Konzept spürbar mit eigenen Ideen zu prägen. Das ist nicht nur ein Tribut an die Verschiedenartigkeit Europas, sondern auch ein Zeichen dafür, dass wir uns (noch) nicht als Macht- und Einflussfaktor in der Weltpolitik verstehen wollen. Damit liegt die Initiative bei der US-Regierung. Die ließ sich denn auch nicht lange bitten. Der amerikanische Präsident George W. Bush nutzte die Vorlage des Berichtes zur nationalen Sicherheitsstrategie (National Security Strategy) ohne allzu viel Aufhebens dazu, seine Ideen für eine neue Weltordnung vorzustellen.
Offiziell vermerkt der Kalender des Präsidenten keine außergewöhnlichen Ereignisse für den 17. September 2002: Anmerkungen zum Verfassungstag, Besuch des Islamic Centers in Washington, Wahlkampf-Mittagessen in Nash- ville. Business as usual – auf den ersten Blick. Ein Jahr und sechs Tage nach den Anschlägen in New York und Washington stand nicht der Kampf gegen den Terror im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern die bevorstehenden wichtigen Wahlen zum Senat und Repräsentantenhaus, die zugleich die Hälfte der Amtszeit eines Präsidenten markieren. An diesem 17. September aber setzte Bush im Weißen Haus auch seine Unterschrift unter den Bericht über die National Security Strategy – unspektakulär, ohne Publicity, nahezu beiläufig.
Das Papier markiert eine bemerkenswerte Abkehr von jenen multilateralen Grundsätzen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht nur die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt haben. „Amerika besitzt eine Position unvergleichbarer militärischer Stärke; diese werden wir um jeden Preis verteidigen.“ Und dann werfen Bush und seine Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice so ziemlich ersatzlos über den Haufen, was seit 1940 als Rahmenwerk amerikanischer Politik und globaler Sicherheitsplanungen galt: Abkommen zur Abrüstung und gegen Weiterverbreitung von Waffen – zumeist hinfällig. Die Strategien zur Eindämmung von Gewalt und das Kalkül der Abschreckung – mehrheitlich Makulatur. Und: Amerika werde nicht mehr warten, bis es angegriffen wird, sondern das Land werde gegebenenfalls zuerst zuschlagen. Dem multilateralen Netzwerk aus Institutionen und Abkommen, die den Frieden in den vergangenen 50 Jahren sicherten, folgt ein unilaterales Konzept nach dem Motto: Amerika nimmt die Dinge selbst in die Hand. Bush verspricht, man werde die Stärke des eigenen Militärs nicht dazu nutzen, einseitige Vorteile für die Vereinigten Staaten zu erlangen. Man wolle mit den Alliierten und internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen zusammenarbeiten. Das Ziel: „Wir streben ein Machtgleichgewicht an, das Demokratie, persönliche Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit des Eigentums, Glaubensfreiheit, Prosperität und freien Handel möglich macht.“ Und: „Wir werden diese Werte und das Konzept der Freiheit über den gesamten Globus verbreiten.“
All dies – ein sinnvoller, pragmatischer, edler, humanitärer Ansatz, eine Ordnungsidee für die Welt von morgen? Viele – auch mit Bush sympathisierende – Beobachter sehen das anders und äußern zumindest starke Zweifel an der Durchsetzbarkeit der neuen Doktrin. Denn: Bushs Strategie setzt etwas als gegeben voraus, über das das Papier nicht spricht: Hegemonie. Die absolute, unanfechtbare Vormachtstellung der USA ist die Grundlage, auf der nur Bush seinen Anspruch aufbauen kann. Dass auch der Präsident das so sieht, zeigt sich in der Bemerkung, man werde die Position unvergleichbarer militärischer Stärke um jeden Preis verteidigen. Dies und die Anmerkung, die USA wollten mit anderen Staaten und internationalen Organisationen kooperieren – es will für Skeptiker nicht zusammenpassen. Ein nachvollziehbarer Eindruck.
Amerika sollte die Opposition nicht kalt lassen. Skeptiker und Kritiker gab es selten in so großer Zahl wie in diesen Tagen. Das zeigt etwa eine Umfrage unter 38 000 Personen, die die Zeitung International Herald Tribune im Spätsommer in 44 Ländern der Welt abhalten ließ. Das Ansehen der USA, so stellte sich heraus, hat sich in den vergangenen zwei Jahren deutlich verschlechtert – trotz der Sympathiewelle, die es nach dem 11. September gab. Und das nicht nur in Nationen mit einer überwiegend moslemischen Bevölkerung, sondern auch bei engen Verbündeten wie Kanada, Mexiko, Deutschland und England. Während die Befragten den Kampf gegen den Terror in allen Ländern mehrheitlich befürworten, beklagt eine ebenso deutliche Mehrheit die „aggressive US-Außenpolitik“, die zu wenig Rücksicht nehme auf die Interessen von Freunden und Alliierten. Gerade den avisierten Krieg gegen den Irak sehen viele als Beweis für diese Einschätzung. In nahezu jedem Land beklagt man den „steigenden amerikanischen Einfluss“.
Eine Schlussfolgerung lässt sich aus der Umfrage vor allem ziehen: Hegemonen haben es schwer in einem Zeitalter nach dem Ende des Kalten Krieges, von dem die Welt erhoffte, das Streben großer Nationen nach Vormachtstellung gehöre der Vergangenheit an. Zumindest aber gilt: Die Hegemonen von heute müssen sich um die Zustimmung der Welt bemühen. Denn: Ohne das Einvernehmen mit den Alliierten, der Uno und den Staaten der arabischen Welt wird etwa ein Feldzug gegen Saddam Hussein vielleicht zwar im militärischen Sinne, nicht aber unter dem Aspekt strategischer, geopolitischer Stabilität gelingen können. Amerika setzt in seiner Strategie vehement darauf, moralisch im Recht zu sein, und kalkuliert daher fest mit der Unterstützung der Alliierten und der Zustimmung der Bevölkerung etwa im Irak. Aber: Was, wenn diese Zustimmung ausbleibt? „Dies ist die größte Schwachstelle der neuen Doktrin. Sie funktioniert nur, wenn sie auch jenseits der USA Unterstützung findet“, sagt US-Militärhistoriker John Lewis Gaddis von der Yale-Universität. Dieser Unterstützung freilich hat sich die Regierung Bush in vielen Ländern beraubt – durch ihren Rückzug von internationalen Projekten wie dem Kyoto-Protokoll oder der Einrichtung des Internationalen Gerichtshofes. „Wir verhalten uns wie ein halbstarker, schmollender Teenager und haben daher weniger Unterstützung, als wir für eine solch riskante Strategie benötigen“, sagt Gaddis.
Soll die Suche nach einem neuen geostrategischen Konzept tragbare, nachhaltige Ergebnisse produzieren, kommt es nun darauf an, dass sich die USA trotz ihrer unbestreitbaren, vielfach auch gewünschten und sinnvollen Vorreiterrolle schnell wieder in die Weltgemeinschaft einbinden lassen. Sie müssen ihre immer wieder spielerisch geäußerten Gedanken an Isolation und Alleingänge aufgeben. Amerika benötigt die Alliierten. Und seine neue Doktrin hat die Unterstützung der Verbündeten und der internationalen Staatengemeinschaft gerade mit Blick auf die angestrebte Verbreitung von demokratischen Werten, Menschenrechten und Wohlstand auch verdient. Aber die Amerikaner müssen ihren Verbündeten dann auch nachdrücklich glaubhaft versichern, dass sie ihre Werte und politischen Zielvorstellungen achten; sie müssen zu Zugeständnissen und echter Zusammenarbeit bereit sein. Sonst bleiben sie der ungeliebte Hegemon.
Aber nicht nur Amerika muss sich in die Pflicht nehmen lassen. Die Europäer sind ebenso gefragt, bei der Suche nach einer neuen Weltordnung ihren Beitrag zu leisten. Der Rückzug in die Nische des zur Durchsetzung nicht fähigen Beobachters der Weltpolitik wird nicht funktionieren. Genauso wie Deutschland nach der Wiedervereinigung seine Rolle in der Welt neu definieren muss, hat auch das stetig wachsende Europa die Pflicht, sich aktiv und konstruktiv zu beteiligen. Wer sich passiv zurücklehnt oder sich mit markigen Wahlkampfsprüchen auf deutschen Marktplätzen aus der Liga der Glaubwürdigen katapultiert, der darf sich nicht beklagen, wenn andere die Führung übernehmen. Das Versagen Europas bedeutet: Es gibt nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion keinen echten Wettbewerb der Ideen mehr, weil den Vereinigten Staaten ein – im friedlichen und konstruktiven Sinne verstandener – Gegenpol fehlt. Diese Rolle können aus heutiger Sicht nur die Europäer übernehmen. Nur im Wettstreit der Ideen lassen sich Konzepte entwickeln, die dem Terror gegen Personen und Sachen in Amerika, Europa und dem Nahen Osten ein Ende setzen. Dabei werden die großen Mächte bewusst nicht mehr primär auf Einflusssphären und Marktchancen achten dürfen, sonst wird die Übung nicht gelingen. Wer stark ist, kann auch (begrenzt) nachgiebig sein.
Amerika und Europa müssen nun im Dialog ein integriertes Konzept entwickeln, das über den Tag und die aktuelle Krise hinausschaut. Es muss dem Primat folgen, dass der Globalisierung der Wirtschaft nun die Globalisierung der Politik folgt. Es muss berücksichtigen, dass es für diese Politik keine toten Winkel auf der geostrategischen Landkarte der Welt mehr geben darf, weil auch noch so kleine Konflikt schnell globale Wirkung zeigen. Die Blaupause für die geostrategische Zukunft muss zunächst alle Konflikte, alle potenziellen Krisenherde erfassen und alle Elemente, die dazu beitragen – seien es politische Unwägbarkeiten, Handelshemmnisse, Überbevölkerung, Armut oder schlicht die Unterdrückung von Freiheit. Dabei gilt es, den einseitigen Blickwinkel zu vermeiden. Die zu verurteilende Unterstützung des Terrors durch Staaten des Nahen und Mittleren Ostens etwa kann eben nicht losgelöst betrachtet werden von dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Wer einerseits Recht, Freiheit und Prosperität predigt, darf in diesem Konflikt nicht schlicht dem stärkeren – also Israel – freie Hand gewähren. Gerade dieser Konflikt zeigt aber, was nun vor allem gefordert ist: aktive Einmischung im positiven Sinne. Also: Amerika und Europa bestehen druckvoll darauf, dass solche Krisen in Verhandlungen beendet werden, bestimmen aber nicht zwingend die Art und Weise der Lösungen
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Für das neue Konzept gilt das alte Motto Woodrow Wilsons: Es muss die Welt sicher gemacht werden für die Demokratie, sonst ist die Demokratie in der Welt nicht mehr sicher. Dies kann nur gelingen, wenn der Globalisierung von Wirtschaft und Politik ein weiterer Aspekt hinzugefügt wird – die Suche nach einem globalen Wertesystem. „Eine solche Welt verlangt, dass wir die Wände unserer Wahrnehmung einreißen, die Arm und Reich, Weiß und Schwarz, Christen und Muslims voneinander trennen – damit wir auf neuen Wegen voneinander lernen, über die Grenzen von Nationalstaaten, wirtschaftlicher Entwicklung und Rasse hinweg“, sagt Uno-Generalsekretär Kofi Annan: Das ist ein idealistischer Ansatz. Aber seiner bedarf es neben militärischer Stärke auch, wenn der Welt weitergeholfen werden soll.
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