Es ist Herbst. Und die Deutschen sind wieder einmal unzufrieden mit ihren Regierenden. Das werden wir auch im Herbst 2003 so erleben. Genauso im Herbst 2004. Und daran wird sich nicht das Geringste geändert haben, wenn im November 2006 der Kanzler womöglich nicht mehr Schröder heißt, sondern vielleicht Gabriel, Platzeck, Koch, Merkel oder wie auch sonst. Immerfort wird man in den Zeitungen dieser Republik zu lesen bekommen, dass die Regierung lediglich Flickwerk betreibt, dass die große politische Linie fehlt, dass der Kanzler nicht konzeptionell führt. Ab und an werden uns deftige Schlagzeilen überdies darüber belehren, dass wir eigentlich überhaupt noch niemals so jämmerlich, dilettantisch und visionslos regiert wurden wie gerade jetzt.
Denn so läuft es seit eh und je in der deutschen Bundesrepublik. Politik war hier nie der große, kühne, ordnungspolitisch streng nach einem Masterplan agierende Vollstrecker des Volkswillens; Politik im Innern war stets Krisenmanagement, Stückwerk, natürlich auch Intrige, Zerwürfnis, Verrat. Die Panne und der Misserfolg, der schlechte Kompromiss auf dem kleinsten Nenner, das Vertagen des Problems waren nicht die Ausnahme, sie waren die Substanz der Politik ? von Adenauer bis Kohl über Brandt und Schmidt. Aber kurioserweise stellen sich das die Menschen in diesem Lande immer noch anders vor. Und merkwürdigerweise haben sie stets den Eindruck, immer gerade in der je aktuellen Gegenwart besonders jämmerlich und chaotisch regiert zu werden, obwohl sie in all den Jahren zuvor ganz ähnlich schon über Kanzler und Kabinette geschimpft, geprangert und gehämt haben.
Insofern ist es kaum mehr als ein Running-Gag, dass auch jetzt wieder die gesamte Journaille von links bis rechts, soweit solche Richtungsmerkmale in dieser soziologisch-kulturell ziemlich uniformierten Einheitsklasse der Deutungseliten überhaupt noch erkennbar sind, in die Empörungstrompete bläst. Alles fragt auch diesmal mit der üblich monotonen Gedankenlosigkeit nach dem großen Aufbruch, attackiert den Kanzler wegen seines fehlenden Mutes zur großen Reform. Und so weiter. Es ist eben wie stets, nur noch ein Stückchen alarmistischer, dröhnender, ultimativer und ungeduldiger als in den Jahrzehnten zuvor. Auch das wird künftig so weitergehen. Doch könnte das dann in eine neue Qualität der politischen Desorientierung führen. Denn das Bild von Politik wird im Zuge der medienmodernisierten Reduktion allmählich nachgerade vormodern. Es gibt da die eine Hauptstadt, die eine Regierungsmacht, den einen Regierungschef. Auf diesen einen Punkt konzentrieren sich alle Kommentare und Erwartungen wie zu Zeiten nicht weiter differenzierter Gesellschaften. Der Staat ist in dieser Perspektive immer noch Zentrum und Spitze der Gesellschaft. So vermitteln es nicht nur die Medien. So konnte man es auch in der Schule lernen, wo ganze Tausendschaften von unkundigen Sozialkundelehrern den Schülern die Demokratie am Beispiel des englischen Westminister-Modells erklären. Dort gibt es das Mehrheitswahlrecht; da ist die eine in Wahlen siegreiche Partei, die an der Spitze eines Zentralstaats, ungestört durch Koalitionszwänge und föderale Beschränkungen, über die gesamte Legislaturperiode hinweg die Möglichkeit hat, ihr politisches Programm kohärent zu verwirklichen und die Gesellschaft tief zu durchdringen. Eben diese Vorstellung von Staat und Regierung als die prägenden Leitinstanzen der Gesellschaft dominiert auch den politischen Alltagsdiskurs in Deutschland. Die Crux allerdings ist, dass im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der Steuerungsbedarf moderner Gesellschaften zwar erheblich angewachsen ist, die Steuerungskapazitäten des modernen Staates aber erheblich abgenommen haben. Wir denken an den alten Staat der Vormoderne und verlangen, was der moderne Staat gar nicht mehr bieten und leisten kann.
Jedenfalls nicht in Deutschland. In Deutschland taugt vor allem die reine Lehre des englischen Westminster-Modells nicht, um die Politik der Regierungen zu beurteilen. An diesem Maßstab kann sich Regierungspolitik hier zu Lande nur blamieren. Politik wird an Kriterien gemessen, die sie nicht zu erfüllen vermag. Deutsche Politik wäre vernünftigerweise daran zu messen, ob ihren Akteuren ein guter Kuhhandel gelingt, ob sie einen ordentlichen Flickenteppich weben, ob sie geschickt ausgleichen, hin und wieder auch im richtigen Moment wegtauchen, ob sie das Management der Widersprüchlichkeiten und Interessengegensätze zu Stande bringen. Doch das, was das Optimum deutscher Politik wäre, ist nach den Maßstäben des politischen Kommentars immer nur ein schlechter Kompromiss, ungenügendes Stückwerk, visionsloses Kleinklein. Irgendwann sollte man darüber nachdenken, wie sehr der Maßstab des politischen Kommentars zur Depolitisierung der Nation beigetragen hat.
Dabei ist oft genug erzählt worden, warum in Deutschland Politik als Projekt nicht funktioniert, jedenfalls nicht in der Innenpolitik. Es mangelt nicht an luziden Analysen darüber, wieso die große Reform oder die scharfe Wende trotz aller vollmundigen Rhetorik schon bei den Herren Brandt und Kohl nie zu Stande kam. In Deutschland fehlen im Unterschied zu England die zentralstaatlichen Instrumente, um über Politik die Gesellschaft zu formen und zu bewegen. Dazu ist die Macht in Deutschland zu sehr zersplittert; dazu fahren hier der Bundesregierung zu viele mächtige Vetospieler in die Parade. Der Bundesrat und die Ministerpräsidenten ? vor allem natürlich der Opposition ? konterkarieren den Kanzler; das Bundesverfassungsgericht zieht dem Bundeskabinett enge Grenzen; die autonome europäische Notenbank diktiert die Geldpolitik. Schließlich hat ein deutscher Bundeskanzler in aller Regel noch Rücksicht auf einen Koalitionspartner zu nehmen. Überdies gibt es seit der Partizipationsrevolution der siebziger Jahre ganze Legionen von artikulationsfreudigen Bürgerinitiativen und Verbänden, die den rasch kuschenden Politikern klar machen, was sie alles nicht haben wollen. Das meiste davon braucht einen englischen Prime Minister nicht zu scheren. Er kann in kurzer Zeit von oben geradlinig durchsetzen, was ein deutscher Kanzler nur in langen Zeiträumen nach vielen Umwegen und noch mehr Kompromissen höchstens in kleinen Schritten zu erreichen vermag. Höchstens, wie gesagt. Schröder kann nicht Blair sein, erst recht nicht Thatcher ? selbst wenn er es wollte. Und für den Kandidaten aus Bayern hätte das genauso gegolten.
Schon institutionell also ist die deutsche Politik nicht für den großen Wurf, für kraftvolle Reformen aus einem Guss gerüstet. Doch ist der öffentliche Maßstab der Politik immer noch das stimmige Konzept und die wuchtige Aktion. Und zum öffentlichen Bild von einem guten Politiker gehört der entschlossene Vorkämpfer, der entscheidungsfreudige Anführer, der Mann mit mitreißenden Visionen, präzisen Strategien und großer sachlicher Kompetenz. Von alledem aber darf ein Politiker, der es in Deutschland weit bringen und auch etwas in Bewegung setzen will, nicht allzu viel haben. Er würde sonst brutal scheitern. In der fragmentierten bundesdeutschen Gesellschaft mit ihren vielen antagonistischen Machtzentren muss ein guter Politiker vielmehr ein sehr geschmeidiger Mensch sein, sehr integrativ, sehr flexibel, sehr anpassungsfähig, mit viel wachem Instinkt für Stimmungen und möglichst wenigen, dann aber unbeirrbaren, granitenen Grundüberzeugungen in den zwei bis drei Kernfragen der Republik. In allen anderen Fragen braucht er sich weder exzellent auszukennen noch feste Glaubensbekenntnisse zu besitzen; das würde nur stören. Er muss zäh sein, geduldig, muss lange Wege gehen und viele Enttäuschungen ertragen können. Er darf vor allem kein dogmatischer Ordnungspolitiker sein. Mit Ordnungspolitik ist in der Verhandlungsdemokratie, bei der stets ein verwaschener Kompromiss herauskommt, nichts zu bestellen. So bringen in aller Regel erfolgreiche Wirtschaftsführer, erstklassige Ökonomen, hervorragende Naturwissenschaftler und großartige Ingenieure oder Techniker in der Politik nichts zu Stande. Sie übertragen die Regeln ihrer Profession auf die Politik, gehen logisch vor, definieren scharf die Ziele und konstruieren danach einen streng berechneten Aktionsplan. In der Politik aber geht es ganz unlogisch zu; Stimmungen spielen eine erheblich größere, wenn nicht ausschlaggebende Rolle; die Ziele wechseln oder kristallisieren sich oft erst im politischen Prozess heraus; und feste Pläne begrenzen nur den Handlungsspielraum, den Politik in komplexen und dynamischen Gesellschaften braucht. Wirtschaftsführer treffen ihre Entscheidungen rasch und effizient in kleinen Kreisen; die Betriebsinteressen sind eindeutig festgelegt; die Öffentlichkeit schaut nicht hin und muss nicht überzeugt werden. Die Politiker dagegen stehen im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit; sie müssen sich nicht nur dort, sondern in etlichen Gremien, Institutionen, Ausschüssen rechtfertigen und sukzessive Mehrheiten aus Gruppen mit oft höchst unterschiedlichen Interessen zusammenbasteln. Die Politiker müssen improvisieren, lavieren und taktieren, die Wissenschaftler und Wirtschaftsführer dürfen es nicht. Die Ökonomen und Manager müssen Effizienz, Rationalität und Kohärenz anstreben, der Politiker kann es nicht. In der Politik gibt es gewissermaßen die Funktionalität der Ineffizienz.
Alle tun so, als wollten sie die große Reform, als wollten sie Politik als zielorientiertes und strategisches Projekt, aber niemand tritt in Deutschland zumindest für die institutionellen Voraussetzungen einer solchen Politik ein. In Feiertagsreden wird gern der Primat der Politik beschworen. Im Alltag tritt kaum jemand für die Einführung des Mehrheitswahlrechts ein, für die Liquidierung des Föderalismus, für die Abschaffung des Bundesverfassungsgerichts, für die Entmachtung der europäischen Notenbank, für die Auflösung des Bundesrates. Denn nur dadurch würde man eine Zentralregierung bekommen können, die Reformen autonom und zügig auf den Weg bringen und die Gesellschaft kräftig durchpflügen kann. Davor aber schrecken in Deutschland alle zurück. Sie ahnen, dass es dann vorbei wäre mit der lauen Behaglichkeit der politischen Kultur, mit der angenehmen Sedierung scharfer Konflikte. Es würde vielmehr ziemlich ungemütlich werden. Das möchte die Regierung nicht. Dass will natürlich auch die Opposition nicht wirklich. Und das Volk erst recht nicht. So werden auch künftig alle weiter ganz folgenlos nölen und nörgeln ? und laut nach der großen Reform schreien, die sie im tiefsten Inneren doch so furchtbar fürchten.
Franz Walter arbeitet als Parteienforscher in Göttingen. Von ihm erschien zuletzt: "Die SPD, vom Proletariat zur Neuen Mitte" (Alexander Fest Verlag, Berlin).